Die Polizeigewalt gegen George Floyd hat die USA in eine landesweite Krise gebracht. Warum es jetzt nicht der Zeitpunkt ist, Gewalt und Rassismus relativieren zu wollen, erklärt Tim Kunad.
Die Polizeigewalt - in diesem Fall eine euphemistische Bezeichnung für „der Mord“ - gegen den afroamerikanischen George Floyd hat die US-Amerikaner in eine landesweite soziale Krise gebracht, wie es sie seit dem Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King nicht mehr gegeben hat. In den Medien erreichen uns Bilder von Straßenschlachten, auf sozialen Medien kursieren Videos von mit Gummigeschossen schießenden Polizisten und die meisten Ortsansässigen berichten von bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Und doch: In all dieser Brutalität finden sich immer noch einige Leute - ob anonyme Social-Media-Accounts oder eine Agenda verfolgende Populisten - die meinen die Gewalt und den institutionellen Rassismus, der in Amerika vorherrscht, zu relativieren und begründen zu können - völlig missachtend, was in diesem Fall Ursache und was Wirkung darstellt.
Das am häufigsten von den Relativierenden genannte Argument stellt sicherlich die im Durchschnitt höhere Kriminalitätsrate bei afroamerikanischen Bürgern dar. Dies ist zwar faktisch richtig, jedoch wird hierbei - durch dass kontextbefreite Nennen dieses Faktes - meist klar impliziert, dass die Hautfarbe alleine für diesen Umstand verantwortlich ist.
Die Wahrheit ist allerdings wie so oft komplizierter: Die im Durchschnitt schlechteren Umstände, sprich das durchschnittliche Vermögen (schwarze Haushalte haben nur etwa ein Zehntel der Rücklagen des durchschnittlichen weißen Haushaltes), die Lebensumstände (nur 41% besitzen eigene vier Wände), sowie der durchschnittliche Bildungsstand, welcher sich definitiv nicht durch somatische Unterschiede in den Gehirnen erklären lassen, umreißen nur die desolaten Zustände, in denen viele Schwarze in Amerika aufwachsen. Gang Associations, Straßenkämpfe in Ghettos, Drive-by Shootings am helllichten Tag - all das ist Realität in den Brennpunkten Amerikas, in denen sich primär Schwarze wiederfinden lassen. Dies rechtfertigt definitiv keine Überfälle oder Morddelikte, jedoch ist es selbsterklärend, dass Menschen, die in solchen Umständen groß werden, eher dazu tendieren gegen das Gesetz zu verstoßen, als reichere Haushalte, welche niemals um ihre Existenz fürchten oder großartige Schicksalsschläge erleben mussten.
Auch ist im Bezug auf die Kriminalitätsrate zu erwähnen, dass beispielsweise in New York 85% der bei einer Verkehrskontrolle Kontrollierten Farbige sind, welche zu allem Überfluss auch noch die Minderheit bilden - heißt also, dass das Ungleichgewicht noch höher ist, als die Prozentzahl vermuten lässt. Daran anknüpfend folgt die Tatsache, dass von den farbigen Kontrollierten nur 7% tatsächlich straffällig waren, während in weißen Kontrollen bei 62% eine Straftat festgestellt werden konnte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass „eigentlich die Weißen die Kriminellen sind“, sondern zeigt, wie weit der institutionelle Rassismus in Amerika eigentlich reicht. Während Farbige willkürlich kontrolliert werden (nur circa jeder 14te ist tatsächlich kriminell), werden Weißhäutige in den meisten Fällen mit einem begründeten Verdacht kontrolliert.
Worin sich allerdings am stärksten die institutionelle Unterdrückung zeigt, ist folgendes: Die 85%, welche die Farbigen bei Verkehrskontrollen ausmachen (beinahe sieben Mal so viel wie die Weißen) müssen mit einer acht Mal so hohen Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass sie während der Kontrolle Gewalt erfahren. Acht Mal so hoch bedeutet, dass (auf die 85% Anteil hochgerechnet) gerade einmal 2% der Gewaltdelikte von Polizisten in den USA sich gegen Weiße richten. Kinder, die eben jenen Minderheiten angehören, bekommen Sätze wie „Mein Name ist XY, ich bin unbewaffnet und nicht gewillt, Widerstand zu leisten“ eingetrichtert - eine für uns in Deutschland lebende übertrieben scheinende Vorsichtsmaßnahme, doch befasst man sich näher mit der Thematik stellt man schnell fest, dass diese Maßnahme nicht übertrieben, sondern notwendig ist.
Deswegen ist „All Lives Matters“ zwar eine in ihrer Bedeutung richtige Aussage - jedes Leben hat es verdient geschützt und respektiert zu werden, hierbei ist die Hautfarbe egal - allerdings ist das, was sie vermittelt, in aktuellen Zeiten absolut unangebracht, da man durch das Skandieren den Fokus von den Unterdrückten auf die Unterdrücker lenkt.
Es sei dennoch erwähnt, dass die „Riots“, das Niederbrennen von Häusern, das Erschießen von Polizeibeamten - kurzum: jede justiziable Handlung im Zuge der Proteste ebenso wenig in Ordnung ist wie das Fehlverhalten der Polizisten. Durch das gewalttätige Handeln für die eigenen Ziele gibt man nur jenen Kanonenfutter, welche die inhaltliche Ebene des Protestes ablehnen, man handelt also nicht im Sinne des eigentlichen Movements.
Es ist schockierend zu sehen, wie ein kultivierter und entwickelter Staat, wie die USA, innerhalb von wenigen Tagen in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand rutschen konnte und es liegt an jedem von uns, indem wir sämtliche Form von Unterdrückung ablehnen und bekämpfen, dafür zu sorgen, dass sich ein ähnliches Szenario in Zukunft nicht wiederholt.
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